"Wir haben uns eine freiere Verfassung gewünscht"

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Wahlen in Tunesien 2011
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Die junge Generation hat sich mehr von der Revolution erwartet

Bei den ersten freien Wahlen Tunesiens 2011 kandidierten in dem Wahlbezirk Deutschland u.a. Fathi Ayadi (Ennahda) und Amal Nasr (Pole Democrate Moderniste). Beide vertraten extrem gegensätzliche Programme. Der „Pole“ stand für ein säkulares und auf soziale Gleichheit ausgerichtetes Programm, während Ennahda islamistische und wirtschaftsliberale Inhalte vertritt. Die Heinrich-Böll-Stiftung interviewte beide Kandidat/innen kurz vor den Paramentsschaftswahlen über ihre Erfahrungen in Deutschland während der Diktatur unter Ben Ali und über ihre Einschätzungen des gegenwärtigen politischen Prozesses.
 

Simon Ilse: Du bist als Tunesierin in Deutschland aufgewachsen und hast dich nach der Revolution 2011 entschlossen, für die linke und säkulare Bewegung „Pole Democratique Moderniste“ auf der Deutschlandliste zu kandidieren. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Amal Nasr: Ich war schon länger als Bloggerin politisch aktiv. Einige Mitglieder meiner Familie gehörten schon unter Habib Bourguiba und Ben Ali zur Opposition. Deswegen besaß ich bereits ein Grundverständnis von tunesischer Politik. Als die Revolution begann, habe ich mich für „Ettajdid“ (Erneuerung), den Reformflügel der ehemaligen KP entschieden. Diese ging ein Wahlbündnis mit unabhängigen und explizit säkularen Aktivisten ein. Die Partei hat mich angesprochen - Sie wollten ein junges Gesicht für Deutschland haben. Ich war damals 23. Und das tunesische System der Auslandswahllisten hatte einen Wahlbezirk in Deutschland eingerichtet.

Was waren die programmatischen Schwerpunkte der Pole Democratique?

Die Einführung der sozialen Marktwirtschaft auf Grundlage einer Steuerreform. Kern unserer fiskalpolitischen Forderungen war ein progressiver Steuersatz und die stärkere Besteuerung der Reichen. Auch war Pole damals die einzige Partei, die für eine Gleichstellung von Mann und Frau im tunesischen Erbrecht eintrat. Dies ist eine symbolisch wichtige Forderung, da dieser Teil des tunesischen Personenstandrechts von der Scharia beeinflusst ist. Dafür wurden wir von Ennahda stark kritisiert. Für uns war es eine klare Sache, denn warum sollten Frauen nur 50 Prozent eines Erbes zustehen? Auch waren wir die einzigen, die bereits eine kleine Verfassung vorbereitet hatten, mit detaillierten Vorstellungen, unter anderem der Garantie von Minderheitenrechten. Ein Artikel thematisierte die Selbstbestimmung des Körpers und die Notwendigkeit des Schutzes sexueller Minderheiten.




Zur Person:
Amal Nasr hat 17 Jahre in Deutschland gelebt und 2011 als Studentin für das Wahlbündnis Pole Democratique Moderniste für einen Auslandssitzin der tunensischen Verfassungsversammlung kandidiert. Danach ist sie nach Tunesien zurückgekehrt und arbeitet jetzt als Programmkoordinatorin bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Tunis.





 

Was waren für dich einschneidende Erlebnisse während der Wahlkampagne?

Die Partei hatte nicht viel Geld. Dementsprechend hatte ich kein Team und musste alles, von der Saalsuche bis zum Verteilen von Flyern selbst machen. Die Kampagne war wirklich ein Erlebnis für mich. Auch musste ich erst einmal die Tunesierinnen und Tunesier ausfindig machen. In Deutschland ist es nicht so einfach wie in Frankreich, wo die Tunesier/-innen konzentriert in Vierteln leben. In Deutschland sind sie überall verteilt. Auch gibt es verschiedene Gruppen, zum Beispiel Student/-innen und die neue Generation, die nach den sogenannten Gastarbeitern kam. Es war für mich viel einfacher Wahlkampf in München oder Karlsruhe zu machen, wo viele tunesische Student/-innen leben, als zum Beispiel in Köln. Köln ist eine ehemalige Gastarbeiterstadt, in der die Leute weniger zugänglich für linke und intellektuelle Ideen waren. Die populistischen Reden von Ennhada und dem Kongress für die Republik (CPR) kamen dort besser an. Während wir uns stärker am Auftrag der Verfassungsgebung orientierten, gaben Ennahda und CPR Versprechen für die erleichterte Einfuhr von deutschen Autos nach Tunesien ab.

Du hast immerhin 7 Prozent der Stimmen gewinnen können. Gewonnen hat Fathi Ayadi von Ennahda mit über 40 Prozent. Wie erklärst du dir den hohen Zuspruch von Deutsch-Tunesiern zu Ennahda?

Es gab 15 Listen in Deutschland und ich war die einzige weibliche Spitzenkandidatin, eine der jüngsten Kandidatinnen in Tunesien überhaupt. Erstens hatte Ennahda deutlich mehr Geld als wir und konnte in allen Städten, in denen Tunesier/-innen leben Wahlkampf machen. Geld für Wahlkampfreisen hatte ich nicht. Zweitens, und das ist entscheidend, ist Deutschland ein Ennahda Wahlbezirk. Viele Ennahdaoui (Parteimitglieder) sind in den letzten 20 Jahren aufgrund der politischen Verfolgung nach Deutschland ins Exil gegangen. Das heißt, sie waren in den tunesischen Gemeinden viel besser verankert als wir und konnten auf Vereinsstrukturen zurückgreifen, die sie teilweise selbst gegründet hatten. Die Pole war in ihrer neuen Formation kaum bekannt.

Trotzdem bist du dann nach Tunesien gegangen. Was war dein Antrieb?

Ich habe auch nach der Wahl die tunesischen Medien und sozialen Netzwerke weiter verfolgt und wollte an dem politischen Prozess teilnehmen. Das war schwierig aus Deutschland. Es ergab sich die Chance, bei der Heinrich-Böll-Stiftung anzufangen. Mittlerweile hat sich das weiterentwickelt und ich bin dort Programmkoordinatorin geworden.

Du bist Programmkoordinatorin für Demokratie und Transition. Was heißt das genau?

Wir sind in Tunesien in der hoffentlich letzten Phase des politischen Übergangs, aber viele Fragen einer demokratischen Transition bleiben weiterhin ungelöst. Zum Beispiel „La Justice Transitionelle“ (die Übergangsjustiz) und der Widerspruch zwischen einer liberalen Verfassung und einem Rechtssystem, das weiterhin Minderheiten diskriminiert. Wir arbeiten mit der Zivilgesellschaft und beginnen jetzt auch, uns an politische Parteien zu wenden. Wir unterstützen zum Beispiel die Liga der tunesischen Wählerinnen (LET), die die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen aus Gender-Perspektive beobachten. Das Schöne ist, dass ich jetzt mit Leuten zusammenarbeite, die ich damals während meiner Zeit als Kandidatin kennengelernt habe, wie zum Beispiel Nadia Chaabane von al-Massar.

Auf welches Projekt bist du besonders stolz?

Einige Projekte sind mir ans Herz gewachsen, weil wir als neues Büro viele Projekte selbst zusammen mit den Partnern entwickelt haben. Zum Beispiel das Manual für die Wahlbeobachtung aus Gender-Perspektive, etwas Einmaliges in der Region. Es ist von großer Bedeutung, weil wir damit Kapazitäten in der Zivilgesellschaft für eine Gleichstellungspolitik aufbauen. Vielleicht kann das Manual auch überregional Wirkung entfalten. Ein weiteres ist ein Projekt, mit dem wir gerade beginnen, Zeugenaussaugen von ehemaligen weiblichen politischen Gefangenen zu archivieren, damit dieser Teil der Geschichte nicht in Vergessenheit gerät.

Nach der Revolution gab es eine regelrechte Explosion von Initiativen und Parteigründungen. Die jungen Menschen finden sich allerdings zu einem großen Teil in Vereinen und Initiativen wieder, nicht in den Parteien. Wie erklärst du dir das?

In den politischen Parteien herrscht die alte Generation. Es sind häufig die historischen Oppositionellen aus der Zeit unter Ben Ali und sogar Habib Bourguiba, die jetzt eine wichtige Rolle spielen. Sie möchten ihren Platz nicht freimachen. Das ist problematisch für die Jüngeren, gerade wenn man bedenkt, dass über 50 Prozent der Bevölkerung unter 30 Jahre alt ist. Wenn dann ein 86-jähriger für die Präsidentschaftswahlen kandidiert, sollte man sich Fragen stellen…

Ist die Übergangsphase von 2011 bis 2014 aus Sicht der jungen Menschen zufriedenstellend verlaufen?

Nicht wirklich. Die jungen Leute haben sich mehr erwünscht und erwartet. Die politische Szene heute repräsentiert einfach zu wenig die Jugendlichen. Diejenigen, die damals auf die Straße gegangen sind, waren meist junge Menschen ohne Job, die auch heute noch keine Arbeit haben und auch angesichts der Wirtschaftskrise in den nächsten Jahren keine Arbeit bekommen werden. Außerdem haben wir uns eine freiere Verfassung gewünscht. So ist zum Beispiel in Artikel Eins der Islam als Religion festgelegt und der Präsident oder – immerhin - die Präsidentin muss dem Islam angehören. Das lässt wenig Platz für Angehörige anderer Religionen oder auch solche, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören.

2013 haben sich die Linken zeitweise aus der Verfassungsgebenden Versammlung zurückgezogen und damit fast das Transformationsprojekt zum Scheitern gebracht. War das aus deiner Sicht ein Fehler?

Nein, ich denke nicht. Nicht nur die Linken haben sich zurückgezogen, sondern auch die Demokraten. Sie haben die Verfassungsgebende Versammlung verlassen, weil ihr Kollege Mohammad Brahmi am 25. Juli 2013 ermordet wurde. Politik ist ein Machtkampf und jeder versucht zu gewinnen. Wenn wir das jetzt analysieren, war es eine Chance, die zu der Verwirklichung einer liberaleren Verfassung, dem Rücktritt der Regierung von Ali Larayeth und zu vorzeitigen Wahlen geführt hat. Viele werden sagen, das sei nicht demokratisch, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir in einem revolutionären Prozess sind.

Hat Ennahda mit der Annahme der Verfassung und dem anschließenden Rückzug aus der Regierung Pragmatismus und politische Reife bewiesen?

Das ist Pragmatismus. Sie sind Politiker, die eine gewisse Erfahrung haben. Ich denke es war ein taktisches Spiel, das sie gut gespielt haben. Ennahda war mit vielen unhaltbaren Versprechungen in die Regierung gegangen. Mit dem frühzeitigen Rücktritt aus der Regierungsverantwortung ergab sich die Chance, dass die Bevölkerung dieses Scheitern bis zu den nächsten Wahlen wieder vergessen hat.
Die tunesische Gesellschaft befreit sich gerade zwar mit ausländischer Unterstützung aber ohne die massive Hilfe und Eingliederungsperspektive, die die EU zum Beispiel den osteuropäischen Ländern in den neunziger Jahren angeboten hat.

Was sind für dich die wichtigsten Reformprojekte der nächsten Jahre?

Ich halte es für sehr wichtig, dass wir Kooperationsangebote und damit verbundene finanzielle Mittel aus demokratischen Ländern annehmen, und nicht aus den Golfstaaten, wie dies Ägypten tut. Warum sollten die Vereinigten Emirate oder Saudi-Arabien eine Demokratie unterstützten? Und Geld aus Katar kam bisher nicht ohne politische Agenda. Mit der EU könnte Tunesien eine demokratische Entwicklungsperspektive entwickeln. Die allerwichtigste Reform ist die des Bildungssystems. Wir müssen dieses System von Beginn an neu denken, weil Ben Ali es in seinen 23 Regierungsjahren völlig zu Grunde gerichtet hat. Innerhalb dieses Bildungssystems müssen wir unsere moderne und zeitgenössische Geschichte aufarbeiten. Wenn wir heute ein tunesisches Geschichtsbuch aufschlagen, wird die Phase nach der Unabhängigkeit 1956 nicht beleuchtet. Und das wenige, was dort zu finden ist, ist die offizielle Version der Präsidenten Bourguiba und Ben Ali. Es gibt keine Informationen über oppositionelle Kräfte und ihre systematische Unterdrückung. Dieser Teil der Geschichte ist bis jetzt tabu und viele Menschen wissen nichts darüber. Eine weitere große Reform sollte dem Innenministerium und dem Sicherheitsapparat gelten. Der Sicherheitssektor wurde bisher nicht wirklich umstrukturiert. 

Warum hast du nicht versucht, ein weiteres Mal für die Parlamentswahlen am 26.10. zu kandidieren?

Nicht jetzt. Vielleicht in 10 Jahren. Wenn all diese alten Politiker in Rente gehen und wir jungen mehr Platz haben. Momentan gibt es einen Stau in der politischen Szene. Wenn sich der gelöst hat und ich ein bisschen mehr Erfahrung gesammelt habe, dann ja.

Letzte Frage: Wär wäre für dich der/die ideale Präsident/-in Tunesiens?

Ich überlege bei den Präsidentschaftswahlen nicht zu wählen, weil mich keiner der Kandidaten repräsentiert. Außerdem sind wir jetzt eher in einem parlamentarischen als in einem präsidialen System, von daher sehe ich nicht wirklich die Notwendigkeit einen Präsidenten zu wählen.
 

Das Interview führte Simon Ilse vom Büro Tunis der Heinrich-Böll-Stiftung.